Welcher Mensch würde sich nicht darüber
freuen, jeden Tag neue, tolle Erfahrungen zu machen? Jedes Erlebnis voll von
Spannung und Emotionen, so dass man sie nie vergessen könnte. Was aber wenn
doch? Du hast die Liebe deines Lebens getroffen, doch wenn man dir einen Tag
später ein Bild von ihr zeigt, weißt du nicht mehr wer sie ist. Du lernst deine
Kinder jeden Tag neu kennen. Erst sind sie dir fremd, doch je länger der Tag
andauert, desto mehr gewöhnt man sich daran. Irgendwo tief drinnen ist doch ein
Gefühl der Geborgenheit, wenn man mit diesen Menschen zusammen ist.
In genau dieser Situation befindet sich
der Vater einer Freundin von mir. Er hatte vor einigen Jahren einen schweren
Autounfall und ist seitdem ein Pflegefall. Jeden Tag überschreiben seine neuen
Erinnerungen die alten. Über Nacht geht einfach alles verloren. Genau wie bei
diesem Film, dessen Titel ich vergessen habe. Genau, der mit dem Happy End.
Leider ist es dann aber doch noch etwas komplizierter, denn seit diesem Unfall
ist er vom Kopf abwärts gelähmt, und kann gerade noch richtig sprechen. Die
Ärzte sprachen von einem Wunder, als sie hörten, dass sein Gehirn nur so…
minimale Defekte vorwies. Bei einer so schweren Gehirnverletzung hätte weitaus
Schlimmeres geschehen können, meinten sie. Aber das wollten wir uns gar nicht
erst vorstellen. Es war auch so schon schlimm genug.
Seine Tochter kümmerte sich seitdem
tagtäglich um ihn. Ich kenne sie seit dem Kindergarten. Früher machten wir
beinahe alles zusammen, doch heute ist dafür kaum noch Zeit. Trotzdem besuche
ich sie fast jeden Tag. Sie sagte mir immer, dass ich ihr helfe das Ganze
durchzustehen. Wie könnte ich sie im Stich lassen?
Alles, was vor dem Unfall passiert war,
war aus den Erinnerungen ihres Vaters gestrichen. Jeden Morgen erzählte ihm
seine Tochter, was passiert war, gleich nachdem sie ihn davon überzeugt hatte,
dass sie wirklich seine Tochter war. Sie schilderte den Autounfall. Vielleicht
hoffte sie, dass dies etwas in ihm hervorrufen würde, auch wenn die Ärzte
sagten, dass das unmöglich wäre. Sie bereitete ihm sein Lieblingsfrühstück zu
und wartete auf Reaktionen. Und auch nach seinem Lieblingsmittagessen folgte
wieder das Warten. Doch er ließ sich einfach stumm füttern. Immer wieder fragte
er seine Tochter, warum sie das für ihn tue, und ob er ihr nicht zu viel zur
Last fallen würde, doch sie strich ihm sanft die Tränen aus dem Gesicht und
sagte ihm jedes Mal wieder, dass er das Gleiche für sie tun würde. Ich wusste
nie ob er aus Freude oder aus Trauer weinte, jedenfalls war es ansteckend…
Im Laufe des Tages fragte er mindestens
einmal, jeden Tag und immer wieder, dieselbe Frage. „Liest du mir eine
Geschichte vor?“ Erst wunderte ich mich darüber, er war doch kein Kleinkind
mehr, doch später begriff auch ich, was es mit den Geschichten auf sich hatte.
Seine Tochter erzählte mir, dass er einst selbst Autor war, sich aber nicht an
eine einzelne Geschichte erinnern konnte. Das machte mich irgendwie traurig.
Ich hatte als Kind fast meine ganze Freizeit mit dem Lesen von Büchern
verbracht. Die Vielzahl der Geschichten, die erfundenen Welten und Lebewesen,
und die Emotionen die damit verbunden waren, könnte ich nie vergessen. Wie
schlimm müsste es dann erst sein, wenn man die Geschichten vergaß, die aus den eigenen
Gedanken entsprungen waren?
Mit der Zeit wurde es auch für seine
Tochter immer schwerer, und irgendwie fühlte ich mich verantwortlich dafür ihr
helfen zu müssen. Ich verständigte ihre Freundinnen, zu denen sie ohnehin schon
wenig Kontakt hatte und sagte ihnen, sie sollen ihr einen schönen Tag
verschaffen. Ich würde auf ihren Vater aufpassen. Erst war sie nicht
einverstanden, aber nach einer langen Diskussion darüber, dass sie auch einmal
einen freien Tag verdient hätte, gab sie sich geschlagen. Unter einer
Bedingung. Sie wollte ihn selbst aufwecken und alles erklären. Sie wusste nicht
wie er reagieren würde, wenn ein völlig Fremder ihn aufgeweckt hätte.
Eigentlich war sie das selbst auch jeden Tag für ihn, aber ich ließ sie Recht
behalten und so begann der Tag mit der üblichen Prozedur. Ich war erst ein paar
Mal früh morgens dabei, aber seine Reaktion war immer dieselbe, und hatte sich
im Gegensatz zu seinen Erinnerungen, in die meinen eingebrannt. Jedes einzelne
Mal, nachdem sie ihm von dem Unfall erzählte, drehte er seinen Kopf weg von uns,
doch wir konnten ihn noch leise Schluchzen hören.
Bevor sie das Haus verließ, gab sie mir
noch einen Stapel mit Geschichten, ich sollte einfach nur eine davon auswählen.
Neben dem Bett sitzend überflog ich die Geschichten, sie waren wirklich gut
geschrieben, doch anfangs wusste ich nicht welche ich ihm vorlesen sollte.
„Haben Sie eine Lieblingsgeschichte?“, fragte ich ihn, bevor ich realisierte
was ich gerade getan hatte. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, als wollte ich
verhindern, dass ich noch etwas anrichte, doch ihr Vater lächelte mir einfach
nur zu und sagte: „Keine Sorge, und nein habe ich nicht. Irgendeine, ganz
egal.“ Also begann ich eine der Geschichten vorzulesen. Sie war überaus witzig,
doch eben so ernst. Ich konnte dem gelähmten Mann neben mir zusehen, wie er zu
Grinsen und Lachen begann, und im nächsten Moment wieder in Gedanken versank.
Die Geschichte hatte mich selbst in ihrem Bann bis ich beim Ende angelangt war
und wieder aufblickte. Der Vater meiner Freundin lächelte mir zu, und sagte
etwas, das mich gleichzeitig glücklich, aber auch unendlich traurig machte.
„Ich weiß nicht, wer diese Geschichte geschrieben hat, aber sie erinnert mich
an meine Frau.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich könnte mit meiner Tochter
nicht darüber sprechen, doch jedes Mal, wenn sie mir von diesem Unfall erzählt,
dann durchlebe ich diesen Unfall nochmal. Sie stirbt jeden Tag vor meinem
geistigen Auge.“ Tränen begannen über sein Gesicht zu laufen und ich saß
einfach nur sprachlos da. „Meine Tochter erzählt mir glaube ich nie, dass bei dem Unfall auch ihre Mutter umkam... Ich wüsste nicht einmal wie lange es her ist, aber ich glaube diese Geschichten helfen mir die Vergangenheit ziehen zu lassen."
Ich wusste nicht was ich dazu sagen
sollte und blieb einfach nur stumm sitzen. Sollte ich ihm sagen, dass es seine
Geschichten waren? Vielleicht… Nein, ganz sicher. „Sie haben die Geschichte
geschrieben.“, sagte ich zu ihm. Es dauerte einen Moment, doch mehr brauchte es
nicht, um ihn erneut zum Weinen zu bringen. Ich wollte mich entschuldigen. Es
tat mir wirklich unendlich leid, ihn an diesem Tag schon so oft zum Weinen gebracht zu haben, doch ich wusste noch gar nicht weshalb er seine Tränen vergoss. Er wartete noch einen kurzen Augenblick, bis seine Stimme zurückkam. Dann fing er an zu lächeln und sagte etwas, das mir nie aus dem Kopf gehen wird:
„Danke. Deshalb helfen sie mir also dabei die schrecklichen Bilder zu
vergessen.“
Sehr schön geschrieben :)
AntwortenLöschen